Opern- & Konzertkritik Berlin: Waldbühnenkonzert 23.06.2013
Kritik Berliner Philharmoniker Waldbühnenkonzert 2013: Tetzlaff Mendelssohn, 9. Sinfonie
Opern- & Konzertkritik Berlin, Autor: Anton Schlatz
Das Motto des Abends: erst der Spaß (Mendelssohn), dann die Mühe (Beethoven).
Ich schaue das Waldbühnenkonzert im RBB.
Es herrscht Frühhochsommerwetter. Ich habe ein Pils in der Hand. Aus diesen zwei Gründen ist mein kritisches Vermögen sehr von Nebensächlichkeiten in Anspruch genommen.
Christian Tetzlaff hat eine halbe Tube Gel im Haar. Das war 2007 undenkbar. Um Kinn und Mund kräuselt sich ein Oberlippen- und Ziegenbärtchen. “Die Hosenlänge stimmt jetzt auch”, sagt meine Frau.
Die Berliner Philharmoniker in Hemd und Schlips. Die Schlipse haben die Farben Orange (Pahud, Flöte), Grün (Almasi, Bratsche), Weiß-Silber (Szücz, Bratsche), Giftgrün (Brem, Geige), Lila getüpfelt (Dinca, Geige), Blau gewürfelt (Seegers, Pauke), Fliederblau (Kelly, Oboe), Schwarz mit weißen Punkten (Tarkövi, Trompete).
Tetzlaffs Spiel pendelt zwischen Offensiv- und Schmusestil. Beide Stile berühren sich im direkten, klaren Ton Tetzlaffs. Burschikoser Ausdruck in den raschen Teilen und unbekümmerte Lyrik in den langsamen entsprechen dem lauschigen Ort. Die Philharmoniker treiben die Ereignisse und Vorfälle, die sich in Mendelssohns Violinkonzert aneinanderreihen wie an einer Perlenschnur, mit lieblicher und kecker Frische voran.
Ich sehe Guy Braunsteins (Konzertmeister) quadratisches Musikergesicht in Nahaufnahme, Wenzel Fuchs’ (Klarinette) streng konzentrierte Stirnfalten, Mate Szücz (Bratsche) heiteres römisches Profil. Die Philharmoniker begrinsen den Flow des 2. Finalthemas.
Zugabe: Bach.
9. Sinfonie. Das Stück ist eine Zumutung für den gewöhnlichen Berliner, der in dieser Zeit des Jahres seine Aufmerksamkeit auf ein Glas Berliner Weiße sowie auf einen Besuch im Strandbad Wannsee richtet.
Die Satzschlüsse spielt Rattle strenger aus als vor ein paar Jahren (in der Philharmonie). Das Tempo ist rascher als bei Rattles Beethoven üblich.
Das Adagio dirigiert Rattle mit Stab. Der Satz entfaltet sich zwischen den wogenden Streichern und den blühenden Zwischensätzen der Bläser. Spielen die Streicher anders als vor 2, 3 Jahren? Schon bei der 6. Beethoven im Mai spielten die Geigen freischlenkender, vibrierender, inniglich fließender als sonst unter Rattle. Das Ende des Adagios scheint besonders rasch, innig verspielt erklingen die finalen Schlenker. Die Koordination stimmt öfters nicht (1. Mal Thema 1. Satz, erste und zweite Wiederkehr des Scherzos, Ende Adagio). Für die Beurteilung des Finales fehlen mir heute Abend Kompetenz und Wille. Ich sage einfach, es war flott und vor allem schön.
Das Finale bringt Dimitri Iwaschtschenkos saftigen Bass, die herbe Üppigkeit von Nathalie Stutzmann Alt. Camilla Tilling fehlt für die schrecklichen Himalaya-Höhen des Sopranparts die Höhenluft. Joseph Kaiser singt die Tenorpartie.
Nach Beethoven fragt Rattle: “Fehlt was noch?” Ja, Herr Rattle: Was noch fehlt. Heißt es “Berliner Luft”. Rattle spielt die Große Trommel. Raphael Haeger dirigiert.